Wieso nehmen Multiple-Sklerose-Schübe in der kalten Jahreszeit ab?
Ein Experteninterview mit Dr. med. Mimoun Azizi, Chefarzt der Klinik für Neurogeriatrie im Allgemeinen Krankenhaus Celle
Stimmt es, dass der Winter auf MS-Patienten positive Auswirkungen hat?
Dr. Azizi: „Die kalte Jahreszeit hat in der Tat einen positiven Effekt auf Multiple-Sklerose-Erkrankte. Man würde eigentlich erwarten, dass im Winter die Schübe insbesondere aufgrund des kürzeren Tageslichts und der damit verbundenen Abnahme des Vitamin-D-Gehalts im Blut zunehmen würden:
Doch genau das Gegenteil ist der Fall.
Im Winter geht die Anzahl der Schübe bei vielen Betroffenen signifikant zurück. Allerdings kann der ständige Wechsel zwischen der Kälte im Freien und aufgeheizten Innenräumen zu einer Zunahme an Schmerzen oder Spastiken führen. Hinzu kommt, dass Symptome wie Fatique und vermehrte Müdigkeit im Winter häufiger auftreten können. Daher ist gerade in den Wintermonaten eine angepasste sportliche Aktivität enorm wichtig.“
Warum nehmen die Krankheitsschübe gerade zu dieser Jahreszeit ab? Was löst die Reduzierung der Schübe im Winter aus?
Dr. Azizi: „Es ist ein Paradoxon, da Vitamin D eine große Rolle bei Multipler Sklerose spielt. In Forschungskreisen wurde das auch als „saisonales Paradox“ bezeichnet, weil die Prävalenz der MS mit der geografischen Nähe zum Pol zunimmt.
In den Wintermonaten nimmt der Vitamin-D-Spiegel im Blut ab, dennoch ist bei vielen Betroffenen die Schubrate niedriger als in den anderen Jahreszeiten.
Ein Anstieg der Melatonin-Konzentration könnte erklären, warum Patienten mit Multipler Sklerose in den dunklen Wintermonaten weniger Krankheitsschübe erleiden. Studien konnten darlegen, dass das Nachthormon Melatonin die Autoimmunreaktion der Erkrankung abschwächt und dabei die Aktivität von T-Zellen beeinflusst.
Zudem wiesen die Studien nach, dass es zu einem Rückgang der Schubfrequenz um 30 Prozent kommt. Sie korrelierte nicht mit dem Vitamin-D-Blutspiegel, wohl aber mit dem in der Epiphyse (Zirbeldrüse) gebildeten Melatonin
. Offensichtlich kommt es durch Melatonin zu einer Blockade der T-Zellen, die für Schübe verantwortlich sind. Somit wird eine gegen die eigenen Neuronen gerichtete Autoimmunantwort abgeschwächt oder gar verhindert.“
Inwieweit spielt Vitamin D bei MS eine Rolle?
Dr. Azizi: „Vitamin D spielt in der Behandlung der Multiplen Sklerose eine wichtige Rolle, dies ist seit Jahren bekannt.
Generell wird Vitamin D schon längere Zeit eine positive Wirkung bei Autoimmunerkrankungen zugeschrieben. Zu der positiven Wirkung von Sonnenstrahlen auf unseren Körper gehören unter anderem das Anregen der Vitamin-D- und Serotonin- Produktion, zum anderen bringen sie das Immunsystem in Schwung.
Studien zeigen, dass es Betroffenen in Regionen mit hoher UV-Strahlung besser geht und sie auch weniger Schübe erleiden.
Nahe am Äquator, also der Region mit dem meisten Sonnenlicht, ist sogar das Risiko deutlich geringer, überhaupt an Multiple Sklerose zu erkranken.
Das verdeutlicht die signifikante Rolle von Sonnenlicht und Vitamin D bei der Entstehung von MS und hinsichtlich der Häufigkeit der Schübe.
Deshalb wird MS-Patienten hochdosiertes Vitamin D gegeben, um die Schubrate zu reduzieren.
Zudem kann Vitamin D auch vor Müdigkeit und Depressionen schützen – Symptome, die bei MS-Betroffenen häufiger vorkommen. Es existiert eine Korrelation zwischen Vitamin-D-Konzentration im Blut und der Häufigkeit der Schübe. Ein Mangel an Vitamin D führt – außer im Winter – zu einer Zunahme an Schüben.“
Welche Tücken hat der Rückgang der MS-Schübe im Winter?
Dr. Azizi: „Eine Reduktion an Schüben und somit eine Besserung des Gesundheitszustandes im Winter kann dazu verleiten, dass Betroffene glauben, ihre Symptome könnten permanent ausbleiben.
Diese trügerische Annahme birgt die Gefahr, dass wichtige Medikamente, die seit Jahren eingenommen werden, abgesetzt oder nicht mehr regelmäßig eingenommen werden. Dadurch wird die MS-Therapie vernachlässigt oder sogar beendet, weil die Symptome zunächst nicht mehr so präsent sind. Die Konsequenz ist in den meisten Fällen eine erneute Zunahme an Schüben.“
Wann sind MS-Patienten am gefährdetsten?
Dr. Azizi: „Im Frühjahr sind MS-Patienten am gefährdetsten, da der Vitamin-D-Speicher nach dem langen Winter größtenteils leer ist. Die Tage werden länger und gleichzeitig nimmt die Melatonin-Konzentration ab, somit lässt der schützende Effekt des Hormons nach. Daher treten im Frühjahr häufiger Schübe auf.“
Können Betroffene etwas tun, um das Risiko neuer Schübe zu verringern?
Dr. Azizi: „Die Tatsache, dass offensichtlich Melatonin im Winter die Schübe reduzieren könnte, mag dazu verleiten, Melatonin von außen zuzuführen. Es gibt jedoch keine Studien, die belegen, dass eine externe Melatoninsubstitution die Schubrate reduziert. Daher ist von einer solchen Behandlung abzuraten.
Bei Vitamin D wird empfohlen, die Einnahme mit dem behandelnden Neurologen abzustimmen, denn eine Überdosierung an Vitamin D kann auch schädlich sein. Es gilt folglich, die MS-Medikation regelmäßig zu nehmen, sich gesund zu ernähren und wenn möglich Sport zu treiben.
Außerdem sollte darauf geachtet werden, auch im Winter bei Tageslicht regelmäßig nach draußen zu gehen. Fällt ausreichend Sonnenlicht auf die Haut von Gesicht und Armen – 15 Minuten täglich reichen bereits aus – kurbelt dies die Vitamin-D-Produktion an. Wichtig ist, die MS-Therapie mit dem behandelnden Arzt individuell abzustimmen.“
Ändern sich die Therapiemaßnahmen im Winter? Gibt es bereits einen Ausblick auf zukünftige Therapien?
Dr. Azizi: „Eine externe Melatonineinnahme sollte nicht erfolgen. Im Hinblick auf die Einnahme von Vitamin D: diese sollte mit dem Arzt abgeklärt und abgestimmt werden. Es gibt derzeit keine Studien bzw. Langzeitdaten und somit auch keine Empfehlungen, die eine dauerhafte Melatoninsubstitution empfehlen.“
Welche MS-Therapien gibt es aktuell und welche Rolle spielt die Antikörpertherapie?
Dr. Azizi: „Seit Januar 2020 gibt es die erste orale Therapiemöglichkeit zur Behandlung von SPMS – der Wirkstoff Siponimod kann z. B. die kognitive Leistungsfähigkeit länger erhalten. Die Antikörpertherapie gehört zu den neueren Therapien und zeichnet sich durch ihre spezifische, selektive Behandlung aus. Diese Therapieform setzt gezielt an den aktivierten Lymphozyten an, so dass – anders als bei einer Chemotherapie – eine Grundimmunität erhalten bleibt.“
Wir bedanken uns bei ABC HEALTCARE für die interessanten Informationen