Therapie im Mutterleib
Weltweite klinische Studie zu Ektodermaler Dysplasie unter Erlanger Leitung gestartet
Erfolgreiche Heilversuche am Universitätsklinikum Erlangen haben gezeigt: Wird Kindern mit der Erbkrankheit Ektodermale Dysplasie vorgeburtlich über eine Spritze ins Fruchtwasser der Wirkstoff ER004 (Fc-EDA) verabreicht, entwickeln sie nicht nur mehr Zahnanlagen als ihre unbehandelten Geschwister, sondern auch Schweißdrüsen, die jenen Patienten sonst fehlen.
Mit großer Wahrscheinlichkeit können sie dann ihr Leben lang normal schwitzen – eine im Sommer überlebenswichtige Fähigkeit.
Für die neuartige, mehrfach ausgezeichnete Behandlung reisten unter anderem Schwangere aus den USA extra nach Erlangen.
Unter der Leitung von Prof. Dr. Holm Schneider, Oberarzt der Kinder- und Jugendklinik (Direktor: Prof. Dr. Joachim Wölfle) des Uniklinikums Erlangen und Sprecher des Zentrums für Ektodermale Dysplasien Erlangen sowie Erfinder des Therapieverfahrens, wird dieses nun weltweit klinisch geprüft. Wissenschaftler in Erlangen und Paris haben bereits die ersten zwei Studienpatienten behandelt.
Sechs Jahre alt sind die Zwillinge heute, bei denen Prof. Schneider gemeinsam mit Prof. Dr. Florian Faschingbauer, Oberarzt der Frauenklinik (Direktor: Prof. Dr. Matthias Beckmann) des Uniklinikums Erlangen, erstmals einen Heilversuch im Mutterleib unternahm, um die Symptome ihrer Ektodermalen Dysplasie abzumildern.
Das Vorhaben gelang: Sommerhitze kann den Zwillingen nichts anhaben. Sie können ausgelassen spielen und Sport treiben wie andere Kinder auch; im Winter besuchen sie sogar die Sauna. Trotzdem ist das Medikament, das ihnen geholfen hat, noch nicht als Arzneimittel zugelassen. Seine Wirksamkeit und seine Verträglichkeit müssen erst im Rahmen einer klinischen Studie an einer größeren Zahl von Patienten nachgewiesen werden.
Besondere Herausforderungen
Die vom Bundesministerium für Forschung und Bildung, der Schweizer EspeRare-Stiftung und dem Pharmaunternehmen Pierre Fabre geförderte Studie hätte schon viel früher beginnen sollen, doch die COVID-19-Pandemie durchkreuzte die Pläne der Erlanger Forscher.
„Wie bei vielen seltenen Krankheiten war der Weg vom erfolgreichen Tierversuch hin zur klinischen Prüfung sehr mühsam“, berichtet Prof. Schneider, der für sein Therapiekonzept 2019 den renommierten Care-for-Rare Science Award erhielt. „Denn bei einem Medikament, das nur ganz am Anfang des Lebens zum Einsatz kommen soll und später nicht mehr benötigt wird, lockt kein großer Profit.“
Zudem stellt die Behandlung eine besondere Herausforderung dar, weil sie sowohl die Schwangere als auch ihr ungeborenes Kind betrifft.
Aber für die klinische Prüfung gab es unschlagbare Argumente: Die vorausgegangenen Heilversuche des Erlanger Teams haben bei allen sechs behandelten Kindern das Hauptproblem der Krankheit, die fehlende Schwitzfähigkeit, dauerhaft behoben. Dafür genügte jeweils ein einziger Behandlungszyklus, der von den Schwangeren und auch von ihren Babys gut vertragen wurde.
Nach der Geburt wirkt das Medikament leider nicht mehr, wie die Vorläuferstudie an betroffenen Neugeborenen zeigte. Fehlende Schwitzfähigkeit geht jedoch schon von Geburt an mit Lebensgefahr einher.
Weltweite Unterstützung
An der jetzt begonnenen klinischen Prüfung, der EDELIFE-Studie, sind acht Studienzentren in sechs Ländern beteiligt, in Deutschland die Uniklinika Erlangen und Leipzig.
Sie wird durch Programme der Europäischen Arzneimittelagentur (PRIME-Schema für prioritäre Arzneimittel) sowie der Food and Drug Administration der USA (Breakthrough Therapy Designation) unterstützt. Diese ermöglichen eine beschleunigte Entwicklung und Prüfung von Arzneimitteln zur Behandlung schwerwiegender Erkrankungen und zur Deckung eines medizinischen Bedarfs. Ziel ist es, dass wichtige neue Arzneimittel den Patientinnen und Patienten früher zur Verfügung stehen.
Geplant ist die Behandlung von insgesamt 20 Patienten im Mutterleib, deren Schwitzfähigkeit später im Vergleich mit unbehandelten betroffenen Verwandten beurteilt werden soll. Zudem lässt sich die Wirkung des Medikaments auf andere Krankheitsmerkmale erfassen und jeweils mit den Daten der Kontrollperson vergleichen.
Nicht zuletzt geht es natürlich auch um die Sicherheit der Behandlung für Mutter und Kind. Die Studie ist weltweit die erste, in der Forschende die vorgeburtliche Gabe eines Medikaments zur Therapie einer genetisch bedingten Krankheit untersuchen. Bisher wurden zwei Kinder im Mutterleib mit dem Studienmedikament behandelt: eines in Paris und eines an der Frauenklinik des Uniklinikums Erlangen.
Das Interesse betroffener Familien ist groß. Decken sich die Studienergebnisse mit jenen der bisherigen Heilversuche, so hofft Prof. Schneider, sollte es in absehbarer Zeit möglich sein, die Zulassung des innovativen Therapieverfahrens zu beantragen.
Krankheitsbild Ektodermale Dysplasie
Es gibt circa 100 Arten der Ektodermalen Dysplasie. In den meisten Fällen liegt eine X-chromosomale Hypohidrotische Ektodermale Dysplasie (XLHED) vor. Bei den Erkrankten ist das Gen EDA, das sich auf dem X-Chromosom befindet, mutiert. Weil Jungen nur ein X-Chromosom besitzen, sind sie schwerer betroffen als Mädchen, die neben dem kranken noch ein gesundes X-Chromosom haben.
Menschen mit XLHED fallen durch typische äußerliche Merkmale auf: wenige, häufig spitz zulaufende Zähne, tief liegende, abstehende Ohren, fehlende Wimpern und Augenbrauen, dünnes, kaum pigmentiertes Haupthaar, schuppige, extrem trockene Haut, dunkle Augenschatten und ein eingesunkener Nasenrücken.
Das Fehlen der Schweißdrüsen bedeutet für die Betroffenen Lebensgefahr, vor allem bis zum Alter von zwei Jahren: „Kleine Kinder können noch nicht selbst für Abkühlung sorgen – zum Beispiel, wenn sie im Sommer draußen herumtollen, einen fieberhaften Infekt haben oder sich in einem aufgeheizten Raum oder Fahrzeug befinden.
Die Gefahr eines Hitzschlags ist dann groß“, sagt Prof. Schneider. Fehlende Zahnanlagen beim Fötus geben einen deutlichen Hinweis auf Ektodermale Dysplasie. Die Zahnanlagen können im Mutterleib schon ab der 19. Schwangerschaftswoche durch eine einfache Ultraschalluntersuchung ausgezählt werden. In Verbindung mit einem Gentest der Mutter lässt sich die Erbkrankheit so frühzeitig nachweisen.
Quelle:
Mitteilung des Universitätsklinikums Erlangen vom 9. September 2022