Frühe Verletzungen, späte Konsequenzen
Wie belastende Kindheitserfahrungen die Psyche und Beziehungen prägen
Die ersten Lebensjahre prägen unser Vertrauen in andere Menschen und beeinflussen die psychische und körperliche Gesundheit bis ins Erwachsenenalter.
Belastende Kindheitserfahrungen, darunter Vernachlässigung, Missbrauch oder emotionale Unsicherheit, können langfristige Folgen haben – von einem erhöhten Risiko für Depressionen und Angststörungen bis hin zu einer gestörten Beziehungsfähigkeit.
Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass frühkindliche Traumata nicht nur das persönliche Leben der Betroffenen beeinflussen, sondern auch gesellschaftliche Dynamiken mitbestimmen.
Schätzungen zufolge sind in Europa mehr als 55 Millionen Kinder von emotionalem, körperlichem oder sexuellem Missbrauch, Vernachlässigung oder anderen traumatischen Erlebnissen betroffen.
Auch in Deutschland sind belastende Kindheitserfahrungen sehr häufig
Etwa ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung berichtet über prägende negative Erlebnisse in der Kindheit, die ihre spätere Entwicklung und ihr Wohlbefinden beeinträchtigen. Zudem gibt rund ein Fünftel der Menschen an, in ihrer Kindheit mittelschwere bis schwere Missbrauchs- oder Vernachlässigungserfahrungen gemacht zu haben.
Kindheitstraumata als unsichtbare Last
„Frühe emotionale Verletzungen – sei es durch Vernachlässigung, Missbrauch oder unsichere Bindungserfahrungen – können das Vertrauen in andere Menschen tiefgreifend erschüttern. Wenn diese Erlebnisse nicht angemessen verarbeitet oder aufgefangen werden, können sie langfristige Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und die Fähigkeit, stabile Beziehungen aufzubauen, haben“, erklärt Professor Dr. med. Johannes Kruse, Kongresspräsident des Psychosomatik-Kongresses und Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM).
Insbesondere Misstrauen und Leichtgläubigkeit entwickeln sich vermehrt nach schweren frühkindlichen Belastungen.
Doch nicht nur die individuellen Folgen sind gravierend.
Unverarbeitete Traumata beeinflussen auch das soziale Gefüge und stellen unsere Gesellschaft vor Herausforderungen.
Fehlendes Vertrauen und Bindungsunsicherheit wirken sich auf das soziale Miteinander aus und können gesellschaftliche Isolation, Konflikte und Spaltung verstärken.
Misstrauen als gesellschaftliches Problem
Misstrauen ist längst kein rein privates Problem mehr. Menschen mit schweren frühkindlichen Traumatisierungen und Leichtgläubigkeit hängen vermehrt Verschwörungstheorien an.
Wenn Menschen Schwierigkeiten haben, Informationen und Menschen zu vertrauen, leidet nicht nur ihr persönliches Umfeld, sondern auch das soziale Gefüge insgesamt. Einsamkeit und Misstrauen nehmen zu, während der gesellschaftliche Zusammenhalt abnimmt.
„Das ist vor allem im Kontext aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen relevant“, betont Kruse. Es entsteht eine sich selbst verstärkende Spirale von Misstrauen und Einsamkeit. Die zunehmende Digitalisierung spielt dabei eine nicht unerhebliche Rolle.
Aufgabe für die Psychosomatik
Die Psychosomatische Medizin bietet wirksame Ansätze zur Bewältigung frühkindlicher Traumata.
Durch psychodynamische und verhaltenstherapeutische Verfahren, traumafokussierte Techniken wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing; eine Form der Psychotherapie, um Traumafolgen bei Kindern und Erwachsenen zu behandeln) sowie körperorientierte Methoden wie Achtsamkeitstraining werden Bindungssicherheit, emotionale Stabilität und Empathiefähigkeit gefördert.
Gruppentherapien und Psychoedukation stärken soziale Kompetenzen und helfen, Vertrauen wiederherzustellen. Zudem setzt die Psychosomatik auf Prävention. So trägt sie nicht nur zur individuellen Heilung bei, sondern auch zur Stabilisierung des gesellschaftlichen Miteinanders.
Quellen:
Kampling H, Riedl D, Hettich N, Lampe A, Nolte T, Zara S, Ernst M, Brähler E, Sachser C, Fegert JM, Gingelmaier S, Fonagy P, Krakau L, Kruse J (2023): To trust or not to trust in the thrall of the COVID-19 pandemic: Conspiracy endorsement and the role of adverse childhood experiences, epistemic trust, and personality functio¬ning. Soc Sci Med 341:116526. https://doi: 10.1016/j.socscimed.2023.116526.
Zara, S., Brähler, E., Sachser, C., Fegert, J. M., Häuser, W., Krakau, L., Kampling, H., & Kruse, J. (2023): Associations of different types of child maltreatment and diabetes in adulthood - the mediating effect of personality functioning: Findings from a population-based representative German sample. Annals of Epidemiology, 78, 47–53. https://doi.org/10.1016/j.annepidem.2022.12.004
Hettich N, Beutel ME, Ernst M, Schliessler C, Kampling H, Kruse J, et al. (2022): Conspiracy endorsement and its associations with personality functioning, anxiety, loneliness, and sociodemographic characteristics during the COVID-19 pandemic in a representative sample of the German population. PLoS ONE 17(1): e0263301. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0263301