Zwischen Hungern, Erbrechen und Essanfällen

Facharzt für Psychotherapie im Interview über Essstörungen

Stiller, aber mächtiger Gegner der Gesundheit – wenn Essstörungen nicht mit massiven Gewichtsveränderungen einhergehen, bleiben sie häufig lange unbemerkt.

Doch im Alltag schwebt die Erkrankung wie ein ständiger Schatten über den Betroffenen.

Prominente wie Taylor Swift oder Sophia Thiel, die ihre persönlichen Erfahrungen öffentlich machen, schaffen zunehmendes Bewusstsein für den großen Leidensdruck von Erkrankten.

Dr. med. Steffen Häfner ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie ärztlicher Direktor. In der Klinik am schönen Moos widmet er sich der Behandlung von Patienten, die gegen Magersucht, Bulimie und Binge-Eating kämpfen. Im Interview erklärt der Facharzt unter anderem, wie Angehörige Betroffenen helfen können.

Welche Essstörung kommt am häufigsten vor?

„Essstörungen sind komplexe psychische Erkrankungen, die oftmals mit einem gestörten Körperbild einhergehen. Von den verschiedenen Formen tritt dabei jedoch keinesfalls das stereotypische Hungern am häufigsten auf.

Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigen, dass von 1.000 Mädchen und Frauen im Laufe ihres Lebens durchschnittlich etwa 28 an einer Binge-Eating-Störung, 19 an Bulimie und 14 an Magersucht erkranken. Jungen und Männer sind tendenziell seltener betroffen.

Oftmals verschwimmen die Grenzen zwischen den verschiedenen Störungen, gerade bei Bulimie und Magersucht.“

Was steckt hinter Magersucht?

„Anorexia nervosa, allgemein als Magersucht bekannt, ist durch extremes Untergewicht, eine verzerrte Körperwahrnehmung und eine erhebliche Angst vor einer Gewichtszunahme gekennzeichnet.

Viele Betroffene weisen große emotionale Labilität, ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle sowie hohe perfektionistische Ansprüche auf.

Zum Alltag von Magersüchtigen gehören oftmals exzessive Sporteinheiten, strenge Diätpläne und sich ständig um Essen kreisende Gedanken. Magersucht kann zu schwerwiegenden körperlichen und psychischen Folgen wie Herzrhythmusstörungen, Osteoporose und zusätzlich zu Depressionen führen.“

Wie sieht der Alltag mit Bulimie aus?

„In der Regel ist das Leben eines Bulimikers von einem körperlich stark belasteten Kreislauf geprägt. So beginnt der Tag mit strengen Diätvorschriften, die schließlich in unkontrollierbaren Essanfällen enden. Diese werden von intensiven Schuldgefühlen begleitet, die Betroffene dazu treiben, die übermäßige Kalorienzufuhr durch Erbrechen, Fasten, Sport oder den Einsatz von Abführmitteln zu kompensieren.

Große Scham sowie die Angst vor der Entdeckung durch Familie und Freunde führen zu einem ständigen Versteckspiel und Isolation.

Häufig macht sich die Erkrankung durch den hohen Bedarf an Lebensmitteln auch finanziell bemerkbar.

Wegen des ständigen Kontakts mit Magensäure leidet zudem die Zahngesundheit. Menschen mit Bulimie haben meist Normalgewicht. Bis Betroffene Hilfe in Anspruch nehmen, vergehen darum oft viele Jahre des heimlichen Leidens.“

Warum sprechen nur wenige Menschen über ihre Binge-Eating-Störung?

„Bei der Binge-Eating-Störung stehen wiederholte Episoden von übermäßigem Essen im Mittelpunkt. Dabei bleibt das ‚Bingen‘, aus dem Englischen für Gelage, jedoch ohne Gegenmaßnahmen. Dies führt häufig zu Übergewicht und Adipositas.

Wichtig ist zu betonen, dass nicht jeder Übergewichtige an einer Essstörung leidet.

Gleichzeitig bleibt die Binge-Eating-Störung darum mitunter lange unentdeckt. Emotionale Probleme wie Einsamkeit gelten als häufige Auslöser für die Erkrankung. Zusätzlich kämpfen Betroffene oft mit intensiven Schuld- und Schamgefühlen und dem Glauben, sie müssten sich nur besser zusammenreißen.

Dabei hilft vor allem eine psychotherapeutische Behandlung, um das Selbstwertgefühl zu stärken und Emotionen losgelöst vom Essen zu verarbeiten.“

Wie sollten Angehörige bei ersten Anzeichen reagieren?

„Angehörige spielen eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung von Menschen mit Essstörungen. Wer Anzeichen einer Erkrankung bemerkt, sollte behutsam und einfühlsam reagieren. In solchen Fällen rate ich dazu, das Gespräch zu suchen, um die eigene Sorge auszudrücken, allerdings – und das ist sehr wichtig – ohne Vorwürfe zu machen.

Wer zuhört und Verständnis zeigt, schafft eine gute Grundlage für gegenseitiges Vertrauen.

Davon abzuraten ist, zu versuchen, den Betroffenen und sein Problem selbst zu therapieren oder Druck aufzubauen. Angehörige können stattdessen wertvolle Hilfe leisten, indem sie Informationen über Essstörungen sammeln und den Betroffenen sanft ermutigen, Unterstützung durch Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen oder Psychotherapeuten in Anspruch zu nehmen. Am Ende kommt es hier aber immer auf die Eigenmotivation des Erkrankten an.“

Weitere Informationen unter www.klinik-a-s-moos.de