Wenn Frauen und Mädchen zu viele männliche Hormone bilden

Auch an das Adrenogenitale Syndrom (AGS) denken

Unregelmäßiger Zyklus, Damenbart, Akne, Unfruchtbarkeit: Treten diese Symptome bei Mädchen und Frauen im gebärfähigen Alter auf, könnte eine Form des sogenannten Adrenogenitalen Syndroms (AGS), late-onset AGS, die Ursache sein, sagt die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie e. V. (DGE).

Bei dieser angeborenen Funktionsstörung der Nebennieren produzieren die Drüsen zu viel männliche Hormone, etwa Testosteron.

Damit ist das AGS die wichtigste Differentialdiagnose zum Polyzystischen Ovarsyndrom (PCOS), das ähnliche Beschwerden hervorruft. Letzteres tritt jedoch viel häufiger auf. Da das AGS vererbbar ist und bei den Nachkommen auch eine schwere Form der Erkrankung auslösen kann, sollte im Zweifel immer eine endokrinologische Abklärung erfolgen.

Die Nebennieren sind winzige Organe, die wie kleine Kappen auf den Nieren sitzen. Sie bilden mehr als 40 lebenswichtige Hormone. Darunter etwa Cortisol, das wichtigste Glukokortikoid, aber auch in kleinen Mengen männliche Hormone. Die Nebennieren sind so an zahlreichen wichtigen Körperfunktionen beteiligt. Sowohl ein Ausfall der Nebennierenhormone als auch deren Überproduktion führen zu charakteristischen Krankheitsbildern. Das Adrenogenitale Syndrom (AGS) umfasst eine Gruppe angeborener Erkrankungen der Nebennieren.

„Die zwei wichtigsten Formen unterteilen sich grob in die bereits zur Geburt auftretende klassische, schwere Form und in die sehr viel häufigere und mildere, nicht-klassische Variante, das late-onset AGS“, sagt Professor Dr. med. Nicole Reisch, Fachärztin für Innere Medizin, Endokrinologin/Diabetologin aus München und Vizepräsidentin der DGE.

In über 90 Prozent der Fälle ist die Ursache der Mangel eines Enzyms der Nebenniere, der 21-Hydroxylase. Das Enzym ist für die Bildung von Cortisol verantwortlich. Als Folge kann es zu einer Unterversorgung mit diesem lebenswichtigen Hormon kommen, wie auch zu einem Mangel an dem Salzhormon Aldosteron bei der schweren Form.

Diese klassische und schwere Form der Erkrankung betrifft etwa eines von 10.000 bis 15 000 Neugeborenen beiderlei Geschlechts. Jeder 50. bis 60. Mensch hierzulande hat die Erbanlage dafür. Doch nur wenn zwei dieser Erbanlagen, von Vater und Mutter, zusammentreffen, kommt es zur Erkrankung.

Die schwere Form verläuft in den ersten Lebenswochen tödlich, wenn sie nicht erkannt und rasch therapiert wird.

Daher wird in Deutschland jedes Neugeborene auf diese Erkrankung hin untersucht. „Bei zeitnahem Beginn der lebensnotwendigen Hormonersatztherapie überleben inzwischen praktisch alle Babys“, sagt Reisch, die die Transitionssprechstunde der Medizinischen Klinik und Poliklinik IV der LMU Ludwig-Maximilians-Universität München leitet.

Das AGS ist die wichtigste Differentialdiagnose zum Polyzystischen Ovarsyndrom (PCOS)

„An late-onset AGS leidet etwa eines von 200 bis 1000 Mädchen und Frauen“, so Reisch. Typischerweise treten erste Symptome ab der Pubertät auf. Die Betroffenen weisen in der Regel jedoch keinen Cortisolmangel auf. Ihre Nebennieren produzieren aber ein Überangebot an männlichen Hormonen. Dieses lösen die typischen Beschwerden aus.

Da die Symptome oft unspezifisch sind und vielerlei Ursachen haben können, ist es wichtig, hier auch an das AGS zu denken und es gegebenenfalls abzuklären. Doch Reisch erläutert: „In 90 Prozent der Fälle werden die Beschwerden bei Mädchen und Frauen vom PCOS verursacht. Es ist die wichtigste Differentialdiagnose“.

Die medizinische Abklärung sei jedoch besonders wichtig vor dem Hintergrund der Vererbbarkeit. „Zwei Drittel der Betroffenen eines nicht-klassischen AGS sind Genträger einer schweren Mutation und können damit die Anlage für ein klassisches AGS weitergeben.“ Damit erhöhe sich bei den Nachkommen das Risiko für ein klassisches AGS von 1:10.000 bis 15.000 Fälle auf 1:400 Erkrankungen. Daher sei eine genetische Beratung und auch die genetische Untersuchung des Partners gerade bei Kinderwunsch entscheidend.  

Für die Diagnostik des nicht-klassischen AGS muss ein ausführliches Hormonprofil erhoben werden. Liegt ein konkreter Verdacht vor, schließt sich ein Hormonstimulationstest an. Dieser dient auch dazu, einen eventuell doch vorhandenen Mangel an Cortisol auszuschließen.

Die Therapie orientiert sich an den konkreten Beschwerden der Patientinnen

Ist ein Cortisolmangel ausgeschlossen, dann orientiert sich die Therapie an den konkreten Beschwerden der Patientinnen: Eine unregelmäßige Regelblutung und ein unerfüllter Kinderwunsch etwa können meist gut durch Glukokortikoide, also “Kortisonpräparate” behandelt werden.

Ist eine verstärkte Behaarung vom männlichen Verteilungsmuster das Hauptproblem, ein sogenannter Hirsutismus, lohnt ein Therapieversuch mit bestimmten Anti-Baby-Pillen. Hilfreich können auch hormonhaltige Hautcremes sein. Sie hemmen insbesondere das Haarwachstum im Gesicht.

„Ideal ist dann eine Kombination mit kosmetischen Behandlungen“, so Reisch.

Akne sollte von Hautärztin und Hautarzt mitbehandelt werden.

Männer sind theoretisch genauso häufig vom late-onset AGS betroffen. Sie haben jedoch meist keine größeren Beschwerden. „Das liegt daran, dass der überwiegende Anteil an männlichen Hormonen bei ihnen im Hoden gebildet wird. Die Produktion der Nebennieren fällt bei Männern in der Regel nicht so ins Gewicht.“ Symptome bei Kindern beider Geschlechter können jedoch eine frühe „Pubertät“, Hautunreinheiten, ein zunächst beschleunigtes Wachstum und dann später Minderwuchs sein.

„Insgesamt können wir heute alle Formen des AGS gut behandeln. Wichtig ist eine rechtzeitige Abklärung durch Endokrinologinnen und Endokrinologen und eine individuell abgestimmte Behandlung“, so Reisch.  

Die Symptome können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein

„Bei dem AGS handelt es sich um eine komplexe endokrinologische Erkrankung. Die Symptomatik können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein“, sagt DGE-Mediensprecher Professor Dr. med. Stephan Petersenn von der ENDOC Praxis für Endokrinologie und Andrologie in Hamburg.

„Die Betreuung besonders der weiblichen Patientinnen erfordert eine spezielle Expertise für alle Lebensphasen. Ein besonderes Anliegen ist es uns, dass gerade im Übergang zum Erwachsenalter bei Hinweisen auf einen Überschuss an männlichen Hormonen auch an diese Differentialdiagnose gedacht wird.“

Zum Weiterlesen:

Leitlinie (S1) Adrenogenitales Syndrom (AGS) im Kindes- und Jugendalter: www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/174-003.html

www.ags-initiative.de

CARES Foundation: www.caresfoundation.org

www.glandula-online.de