Forscherin der Saar-Uni findet bisher unbekannten Mechanismus bei der Schallverarbeitung im Innenohr
Die Säugetiere verdanken ihren evolutionären Erfolg unter anderem auch ihrem exzellenten Hörvermögen.
So haben sie im Laufe ihrer Entwicklung Frequenzbereiche für ihre Kommunikation erobert, die ihre Fressfeinde aus anderen Tierklassen, zum Beispiel Dinosaurier, nicht hören konnten.
Die Biologin Isabelle Lang hat nun einen Grund für dieses gute Hörvermögen entdeckt und so dem komplizierten Puzzle des Hörsinns einen weiteren Baustein hinzufügt. In ihrer Doktorarbeit konnte sie die Existenz eines Proteins nachweisen, das für den Hörvorteil mitverantwortlich ist, indem es eine zentrale Rolle bei der Reizverarbeitung in den Hörsinneszellen einnimmt.
Die Wissenschaftlerin konnte damit eine Frage beantworten, die Forschergruppen in aller Welt jahrelang Rätsel aufgegeben hatte. Ihre Erkenntnisse hat sie nun im Fachmagazin „The FASEB Journal” veröffentlicht.
In der Bewertung vieler Menschen nimmt der Sehsinn den höchsten Stellenwert ein. Tatsächlich sind Menschen auch Sehspezialisten. Die Bedeutung des Gehörs wird darüber hinaus gern vergessen. Dabei spielt jedoch auch das Gehör eine wichtige Rolle für den Erfolg unserer Spezies – wie für den der Säugetiere im Allgemeinen. Denn das Hören dient nicht nur der Kommunikation bei Tier und Mensch, sondern ist auch für die räumliche Orientierung und die Erkennung von Gefahren wichtig.
Tatsächlich kann der Mensch, wie Säugetiere im Allgemeinen, über einen größeren Frequenzbereich hören als andere Klassen des Tierreichs. Vögel etwa können Töne nur bis zu einer Frequenz von drei Kilohertz (kHz) wahrnehmen.
Das menschliche Gehör deckt dagegen einen Bereich von 20 Hertz bis 20 kHz ab, viele kleinere Säugetiere hören weit in den Ultraschallbereich hinein, und Spezialisten wie Fledermäuse können sogar bis zu 200 kHz auflösen.
Als sich während des Dinosaurier-Zeitalters die Säugetiere weiterentwickelten, spielte dieser Vorteil eine große Rolle. Die Säuger konnten dadurch in Frequenzbereichen miteinander kommunizieren, den ihre Fressfeinde, zum Beispiel die Dinosaurier, nicht hören konnten.
Dies liegt unter anderem an der unterschiedlichen Reizverarbeitung im Innenohr. Säugetiere haben eine gewundene und relativ lange Gehörschnecke (Cochlea) im Innenohr, die ähnlich wie eine Gitarrensaite mechanisch abgestimmt ist. Hingegen besitzen Vögel ein simpler aufgebautes elektrisch abgestimmtes Pendant, in dem hochfrequente Töne nicht verarbeitet werden können.
Die ankommende Schallwelle setzt eine komplexe physiologische Reaktion in Gang: Zuerst öffnen sich bestimmte Ionenkanäle an den „Härchen“ einer Hörsinneszelle, einer sogenannten Haarzelle, wodurch Kalium in die Zelle fließt und diese elektrisch erregt. Dadurch öffnen sich wiederum Calcium-Kanäle, die in einer weiteren Kette von Vorgängen elektrische Signale in Hörnervenzellen auslösen, die schließlich ins Gehirn weitergeleitet werden.
Andere Kaliumkanäle, sogenannte BK-Kanäle, sorgen im Anschluss dafür, dass Kalium aus der Haarzelle ausströmt und die Zelle wieder in den Ausgangszustand versetzt wird. Damit sind die Hörsinneszellen wieder aufnahmefähig für eine neue Schallwelle.
Schaut man nun genauer hin, ist es genau dieser BK-Kanal, der bei Säugern anders funktioniert als bei Vögeln.
„Früher ist man davon ausgegangen, dass die BK-Kanäle bei Säugetieren abhängig von einströmendem Calcium sind“, erklärt Isabelle Lang.
Denn bei Vögeln ist das genau so: Wird die Zelle nicht angeregt, fließt kein Calcium, also bleibt auch der BK-Kanal zu und es fließt kein Kalium. Durch das Wechselspiel beider Sorten Ionenkanäle, das in jeder Sinneszelle etwas anders abgestimmt ist, werden bei Vögeln (und auch bei Krokodilen, Eidechsen und anderen Reptilien) die Hörfrequenzen kodiert.
Wurde aber bei experimentell angeregten Haarzellen von Säugetieren der Calciumeinstrom verhindert, floss trotzdem weiter Kalium durch die BK-Kanäle.
Zudem sind die Calcium- und BK-Kanäle bei Säugetieren räumlich weit voneinander entfernt, wohingegen sie bei Vögeln in den Hörsinneszellen unmittelbar nebeneinander liegen.
„Bei Säugern sind die Sinneszellen empfindlicher und schneller wieder ‚betriebsbereit‘, was dem großen Frequenzbereich des Hörens zugute kommt“, erläutert Jutta Engel, Professorin für Biophysik, den Zusammenhang.
Bei Säugern wird der BK-Kanal daher unabhängig vom Calciumeinstrom aktiviert. Welcher Mechanismus dem zugrunde liegt, hat Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus aller Welt in den vergangenen Jahren Rätsel aufgegeben. Isabelle Lang gelang es nun, dieses Rätsel zu lösen.
In ihrer Doktorarbeit konnte sie nachweisen, dass ein Protein namens LRRC52 dafür verantwortlich ist, dass die BK-Kanäle im Säuger-Ohr anders funktionieren als im Innenohr von Vögeln. Es war aus Versuchen mit kultivierten Zellen bereits bekannt, dass LRRC-Proteine die Öffnung von künstlich eingebrachten BK-Kanälen vom Calciumspiegel entkoppeln.
Isabelle Lang konnte zeigen, dass LRRC52 in hoher Konzentration in den Haarzellen erst vorhanden war, wenn ein Säugetier tatsächlich hörfähig ist. Dazu hat sie die Haarzellen von Mäusen vor und nach dem 12. Tag ihrer Geburt untersucht. Ab diesem Zeitpunkt sind die Nagetiere in der Lage zu hören.
In den Haarzellen von Mäusen, die noch nicht hören konnten, war LRRC52 nicht nachweisbar. Das Protein war bei älteren Mäusen exakt dort zu finden, wo auch die BK-Kanäle saßen, und fehlte immer dann, wenn BK-Kanäle nicht vorhanden waren. Somit ist LRRC52 ein Bestandteil von BK-Kanälen in Hörsinneszellen von Säugetieren, der den Kanal unabhängig vom Calciumeinstrom arbeiten lässt.
Dabei spielte den saarländischen Wissenschaftlerinnen auch ein Zufall in die Hände: „Ich dachte immer, die anderen Forschergruppen, die weltweit danach suchen, sind schneller als wir. Aber wir haben alle zuerst aufs falsche Pferd gesetzt“, erzählt Jutta Engel. Denn statt des Proteins LRRC52 hatten alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die nach der Ursache für dieses Phänomen gesucht haben, ein verwandtes Molekül, nämlich LRRC26, in Verdacht.
„LRRC52 kannte man bisher nur als Protein in spermienbildenden Zellen im Hoden, in denen es eine wichtige Rolle spielt“, führt Isabelle Lang weiter aus. „Für das Ohr hatte das erst einmal niemand auf dem Schirm“, so die Forscherin, die den richtigen Einfall hatte, das LRRC52-Protein unter die Lupe zu nehmen.
Quelle:
Mitteilung der Universität des Saarlandes vom 9. August 2019
Isabelle Lang, Martin Jung, Barbara A. Niemeyer, Peter Ruth, Jutta Engel: Expression of the LRRC52 γ subunit (γ2) may provide Ca2+-independent activation of BK currents in mouse inner hair cells. DOI: 10.1096/fj.201900701RR