Misophonie: Überempfindlichkeit auf Alltagsgeräusche keine Lappalie

Bahnbrechende Studie findet Auffälligkeiten im Gehirn

Jemand am Tisch kaut hörbar. Eigentlich nichts Besonderes, aber für manche Menschen ist das unerträglich. Es macht sie aggressiv. Wissenschaftler nennen das Misophonie (Hass auf Geräusche) und versuchen zu klären, warum mancher normale Alltagsgeräusche nicht ertragen kann.

Es können laute Ess- oder Atemgeräusche sein, ständiges Klicken mit dem Kugelschreiber, das Geräusch beim Fingernägelschneiden oder was auch immer es täglich so zu hören gibt. Für Menschen mit Misophonie können solche Geräusche so unerträglich sein, dass sie ihre Aggression kaum unterdrücken können.

Die meisten Alltagsgeräusche, wie starker Regen, und auch unangenehme Geräusche, wie das Schreien eines Babys, stört die Betroffenen nicht mehr als andere Menschen. Die Geräusche, die sie hassen, sind bei den einzelnen Menschen mit Misophonie recht unterschiedlich.

Eine neue Studie geht davon aus, dass bei den Betroffenen im Gehirn eine Störung vorliegt bei den Kontrollmechanismen für Gefühle. Ein Team um den Neurowissenschaftler Sukhbinder Kumar von der Universität Newcastle in England untersuchte mit funktioneller Kernspintomographie die Hirnaktivität von 20 Menschen mit Misophonie. Während diesen bestimmte Geräusche vorgespielt wurden, beschleunigte sich ihr Herzschlag und im Gehirn zeigten sich bemerkenswerte Effekte.  

So wurde im Gehirn die vordere Inselrinde aktiviert, die Sinneseindrücke mit Gefühlen verknüpft und auch mit körpereigenen Signalen wie dem Herzschlag. Hier stellte Kumar eine gesteigerte Selbstwahrnehmung fest.

Außerdem zeigte sich eine Verbindung zu anderen Hirnregionen, in denen Gefühle verarbeitet werden, die Verbindung zum Gedächtnis hergestellt wird und entschieden wird, was in den Erinnerungsspeicher aufgenommen wird.

Kumar vermutet, dass – vielleicht durch traumatische Kindheitserlebnisse – die Wahrnehmung der Abläufe im eigenen Körper gestört ist. Zudem gibt es Hinweise auf eine dauerhafte Schädigung eines zentralen Steuerungszentrums des Gehirns (dem ventromedialen präfrontalen Cortex).

Menschen mit Misphonie missinterpretieren Geräusche in einer Art, die ihrem Körper signalisiert, er müsse auf eine Gefahr reagieren – was auf Dauer eine große Belastung ist. Kumar hofft, dass die Studie hilft, Therapieoptionen zu entwickeln. Dazu gehöre auch, Mechanismen zur Selbstregulation zu entwickeln, wie beispielsweise die Fähigkeit, die nervliche Erregbarkeit zu senken. Außerdem könnten die Ergebnisse dazu führen, dass die Störung von der Fachwelt und dem Umfeld der Patienten ernster genommen wird. Bislang stoßen die Patienten in ihrer Umgebung meist auf Unverständnis.

Misophonie ist derzeit keine „anerkannte“ Erkrankung.
Die meisten Psychiater halten es für eine Phobie, eine post-traumatische Belastungsstörung oder eine Zwangsstörung. Der niederländische Psychiater Damiaan Denys von der Freien Universität Amsterdam hat herausgefunden, dass Menschen mit Misophonie –anders als bei einer Phobie – keine Angst zeigen, sondern Aggression.

Ein schweres traumatisches Erlebnis konnte er nicht erkennen und – anders als bei einer Zwangsstörung – würden die Patienten versuchen, die Geräusche zu vermeiden. Eine Besonderheit sei auch, dass die Krankheit häufig in der Kindheit beginnt. Die Patienten sind zu Beginn der Erkrankung im Durchschnitt erst 13 Jahre alt.

Weitere Informationen erhalten Sie dazu auch direkt beim Deutschen Grünen Kreuz e. V. unter www.dgk.de


Quellen:

1. Misophonie: Wenn Alltagsgeräusche krank machen; Ärzteblatt online vom 7.2.2017

2. Kumar, S. et al.: The Brain Basis for Misophonia; Curr Biol. 20.2.2017, 27(4):527-533.

3. Misophonia International vom 5.2.2017: Dr. Kumar’s groundbreaking research on Misophonia relates to NYU Study! www.misophoniainternational.com

4. Arjan Schröder, Nienke Vulink und Damiaan Denys: Misophonia: Diagnostic Criteria for a New Psychiatric Disorder; PLOS One 23,1,2013 http://dx.doi.org/10.1371/journal.pone.0054706