Wie Zellen ihren Abfall sortieren

Seit Jahrzehnten ist es in der Ubiquitin-Forschung eine offene Frage, wie Proteine als defekt oder überflüssig markiert werden.

In einer neuen Studie, veröffentlicht in Nature Structural and Molecular Biology, konnte dieser Mechanismus, der von der Cullin-RING-Ligase E3 reguliert wird, zum ersten Mal sichtbar gemacht werden.

Die Studie ist eine Kollaboration der Teams um Brenda Schulman, Direktorin am Max-Planck-Institut für Biochemie, und Gary Kleiger, Lehrstuhlinhaber für Chemie und Biochemie der University of Nevada, Las Vegas. Brenda Schulman erzählte uns im Interview, wie sie zu den Erkenntnissen gekommen sind und wie diese bei der Behandlung von Krankheiten eingesetzt werden könnten.

Hintergrund: Cullin-RING-Ligasen (CRLs) sind komplexe Nano-Maschinen, die für die komplizierten Entsorgungs- und Recyclingsysteme der Zelle entscheidend sind. CRLs markieren defekte, toxische oder überflüssige Proteine mit mehreren Einheiten eines kleinen Proteins namens Ubiquitin und bilden so eine Kette aus Ubiquitinen.

Dieser Prozess wird Poly-Ubiquitin-Markierung genannt.

Auf diese Weise markieren die CRLs das Protein als „abbaubar“ und verhindern so die toxische Anhäufung überflüssiger Proteine. Versagt dieser Prozess jedoch, kann sich zellulärer „Müll“ ansammeln, der die Gesundheit der Zellen beeinträchtigen kann.

Aus diesem Grund können Mutationen oder Fehlfunktionen, die CRLs beeinträchtigen, häufig mit Krankheiten wie Entwicklungsstörungen oder Krebs in Verbindung gebracht werden. Aufgrund ihrer Schlüsselfunktionen für das Wohlergehen unserer Zellen ist es also von entscheidender Bedeutung, ihre molekularen Mechanismen zu definieren und zu verstehen.

Durch eine Methode namens Kryo-Elektronenmikroskopie, kurz Kryo-EM, ist es nun möglich einige der kleinsten Strukturen des Lebens, wie beispielsweise CRLs, sichtbar zu machen und so wichtige Einblicke in ihren Funktionszustand zu gewinnen.

Brenda, Sie haben Ihr halbes Leben der Ubiquitin-Forschung gewidmet. Würden Sie uns verraten, was genau Sie daran so fasziniert?

Ubiquitin ist ein faszinierendes Protein, vor allem wenn man bedenkt, wie klein es im Vergleich zu den meisten anderen Proteinen ist. Sein Name kommt von ‚ubiquitär‘, was so viel bedeutet wie ‚allgegenwärtig‘. Tatsächlich wissen wir heute, dass Ubiquitin fast überall vorkommt – in Pflanzen, Pilzen, Insekten, Tieren und Menschen.

Und obwohl Bakterien und Viren kein Ubiquitin herstellen, kapern sie unser Ubiquitin, um Infektionen zu begünstigen. Die Wirkung von Ubiquitin wird von einem System aus Hunderten verschiedenen molekularen Maschinen, den so genannten E3-Ligasen, gesteuert, die bestimmen wo und wann Ubiquitin an den ‚Müll‘ der Zelle angehängt wird. Da Ubiquitin im Grunde ubiquitär ist, spielen E3-Ligasen eine wichtige Rolle beim Ein- und Ausschalten der meisten zellulären Prozesse.

Wenn man sich seit über 25 Jahren mit Ubiquitin beschäftigt, kommt man sich irgendwann vor wie ein Meisterdetektiv in einer altbekannten Krimiserie, zumal E3-Ligasen im Wesentlichen den Auslöser für die Beseitigung anderer Proteine abdrücken. Immer wenn wir einen Fall gelöst haben, taucht ein neuer mit noch größeren Herausforderungen auf.

Die Technologien in unserem forensischen Werkzeugkasten – zum Beispiel CRISPR, chemische Biologie und Kryo-EM, um nur einige zu nennen – sind mittlerweile viel ausgefeilter. Daher ist es nach wie vor ein spannendes und erfüllendes Abenteuer, diese Fälle zusammen mit meinen Kolleg*innen zu lösen.

In Ihrer aktuellen Studie, die in Nature Structural and Molecular Biology veröffentlicht wurde, haben Sie herausgefunden wie viele verschiedene zelluläre Proteine mit Ubiquitin-Ketten markiert werden, wenn sie beseitigt werden müssen – und das extrem schnell. Was hat Sie und Ihr Team zu dieser Entdeckung geführt?

Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass diese Arbeit von besonderer Bedeutung für mich ist, da es sich hierbei um ein jahrzehntelanges Rätsel handelt, das ich bereits zu lösen versuchte, als ich vor 23 Jahren meine erste unabhängige Forschungsgruppe gegründet habe.

Unser Kooperationspartner Gary Kleiger von der University of Nevada, Las Vegas, konnte zeigen, dass eine CRL ein zu markierendes Protein auswählt und es an Ort und Stelle festhält, während es Poly-Ubiquitin anhängt, anschließend lässt sie es wieder los, sodass die CRL ein neues Ziel zur Zerstörung markieren kann – all das innerhalb von Millisekunden.

Diese halsbrecherische Effizienz erklärt auch warum es bisher nicht möglich war, diesen Prozess zu fotografieren – er ist einfach viel zu schnell um ihn mit den zur Verfügung stehenden Techniken einzufangen. Wir mussten daher eine völlig neue Methode entwickeln um sichtbar machen zu können, wie genau CRLs Proteine zur Zerstörung markieren.

Können Sie uns etwas mehr über diese Methode erzählen, die Sie entwickelt haben, um den Mechanismus zu enthüllen?

Wir haben ein chemisches Hilfsmittel entwickelt, das, wenn die CRL mit der Markierung eines Proteins mit Poly-Ubiquitin beginnt, wie eine Falle funktioniert und die CRL in dem Moment anhält, in dem die Poly-Ubiquitin-Markierung an das Protein gebunden wird. Dadurch konnten wir den Komplex mit einer strukturbiologischen Methode, der Kryo-EM, sichtbar machen.

Das Zusammenspiel aller molekularen Komponenten führte uns schließlich zur Entdeckung des Mechanismus der Poly-Ubiquitin-Markierung, die von CRLs katalysiert wird. Als Nächstes entwickelten unser langjähriger Partner Gary Kleiger und sein Team einen neuen Test zur Überprüfung des Modells, mit dem diese Reaktionen in Millisekunden überwacht werden können – der erste ermittelte Zeitpunkt liegt bei 1/400 einer Sekunde!

Was waren Ihrer Meinung nach die vielversprechendsten Beobachtungen, die für die künftige Entwicklung des Fachgebietes eine Schlüsselrolle spielen könnten?

Dank unserer chemischen Falle erhielten wir eine Vielzahl verschiedener Schnappschüsse von CRLs ‚in Aktion‘. Diese gaben uns Aufschluss darüber, wie die Poly-Ubiquitin-Markierung sowohl bei natürlich vorkommenden Proteinen in Zellen funktioniert, als auch bei solchen, auf die ein arzneimittelähnliches Molekül, MZ1, angewendet wird. MZ1 löst die Beseitigung eines mit Krebs in Zusammenhang stehenden Proteins aus. All das hat uns eine Menge interessanter Fakten geliefert, aber es gibt drei Hauptergebnisse.

Das erste war die Enthüllung des tatsächlichen Reaktionsmechanismus der Poly-Ubiquitin-Markierung. Unsere strukturellen Schnappschüsse zeigten, dass alle beteiligten molekularen Komponenten für eine ultraschnelle und spezifische Katalyse zusammenarbeiten. Geschwindigkeit und Spezifität sind in der Tat die charakteristischen Merkmale von Enzymen! Diese Frage beschäftigte die Forschung schon seit über 30 Jahren und wir sind überwältigt davon, dass wir die Ersten sind, die den Mechanismus dieser schockierend schnellen, kritischen Reaktion zeigen konnten.

Die zweite wichtige Beobachtung ergab sich aus dem Vergleich der neuen Daten mit unserer zuvor veröffentlichten Arbeit. Dabei ging es darum, wie CRLs einen anderen, früheren Schritt bei der Markierung von Proteinen für die Entsorgung durchführen. Dieser frühere Schritt umfasst die anfängliche Platzierung eines einzelnen Ubiquitins. Unsere neue Studie zeigt hingegen, wie die Poly-Ubiquitin-Markierung, die mehrere Ubiquitine enthält, hergestellt wird. Tatsächlich werden entscheidende Teile der molekularen CRL-Maschine während des ersten und des zweiten Prozesses drastisch umstrukturiert.

Die vielleicht wichtigste Erkenntnis ist jedoch, dass diese Merkmale bei allen von uns untersuchten CRLs, die Proteine mit Poly-Ubiquitin-Markierungen kennzeichnen, zu beobachten waren. Das deutet wiederum darauf hin, dass unser Mechanismus für eine ganze Reihe von CRLs in unseren Körperzellen gelten könnte.

Was wird Ihrer Meinung nach in Zukunft mit Ihren Ergebnissen bewirkt werden?

Zunächst einmal ist dies ein bedeutender Fortschritt auf dem Gebiet der Ubiquitin-Forschung, der unser Verständnis eines allgegenwärtigen zellulären Systems verändert. Wir wissen jetzt, dass alle Teile der Poly-Ubiquitin-Markierungsmaschinerie auf eine bestimmte Art und Weise zusammenkommen müssen, damit die Reaktion mit rasender Geschwindigkeit und exquisiter Genauigkeit funktionieren kann.

Darüber hinaus hat unsere Studie Auswirkungen auf einen neuen Bereich der Arzneimittelentwicklung, den gezielten Proteinabbau, im Englischen targeted protein degradation (TPD) genannt. Bei den meisten TPD-Verfahren werden kleine Moleküle eingesetzt, um krankheitsverursachende Proteine an CRLs zu binden. Das führt dann zu einer Poly-Ubiquitin-Markierung und schließlich zur Beseitigung des problematischen Proteins. Die neuen Daten weisen auf molekulare und geometrische Zwänge für den Einsatz von CRLs für TPD hin, die wir für eines der bahnbrechendsten Abbau-Moleküle, MZ1, gezeigt haben.

Dieser Forschungsbereich ist sehr spannend, und eine ergänzende Vorabveröffentlichung zum CRL-Targeting über MZ1 wurde erst kürzlich auf bioRxiv durch das Labor von Alessio Ciulli veröffentlicht, der MZ1 entwickelt hat. Unsere Erkenntnisse könnten in Zukunft helfen, neue TPD-Medikamente zu entwickeln und zu verstehen, wie sie in kranken Zellen wirken.

Quelle:
Max-Planck-Institut für Biochemie - Mitteilung vom 7. Februar 2024    

Originalpublikation:
Joanna Liwocha*, Jerry Li*, Nicholas Purser, Chutima Rattanasopa, Samuel Maiwald, David T. Krist, Daniel C. Scott, Barbara Steigenberger, J. Rajan Prabu, Brenda A. Schulman# and Gary Kleiger#, Mechanism of millisecond Lys48-linked poly-ubiquitin chain formation by cullin-RING ligases. Nature Structural and Molecular Biology, February 2024.
https://www.nature.com/articles/s41594-023-01206-1