Computerbasierte Netzwerke ermöglichen bessere Einordnung und Behandlung Seltener Erkrankungen

Wissenschaftler:innen am CeMM, Max Perutz Labs und der St. Anna Kinderkrebsforschung konnten in der Erforschung Seltener Erkrankungen des Immunsystems einen wichtigen Fortschritt erzielen.

Mittels eines netzwerkbasierten Ansatzes wurden rund 200 Seltene Erkrankungen neu klassifiziert. Erste Vergleiche mit klinischen Daten zeigen bereits, wie dadurch die Wirksamkeit von Therapien besser prognostiziert werden kann.

Außerdem zeigt die Studie erstmals die starken Ähnlichkeiten der molekularen Mechanismen von Seltenen Erkrankungen mit Autoimmun- und Autoinflammatorischen Erkrankungen wie beispielsweise chronischen Darmerkrankungen, Multiple Sklerose und spezifischen Diabetestypen. Die Studie wurde nun in Science Advances veröffentlicht.

Das Visualisieren komplexer Daten mittels Netzwerktechnologien macht oftmals sichtbar, was sonst verborgen bleibt – so auch in der Medizin. Bereits seit mehreren Jahren arbeiten die CeMM Adjunct Principal Investigators Kaan Boztug, Direktor der St. Anna Kinderkrebsforschung, und Jörg Menche, Professor an der Universität Wien und den Max Perutz Labs, daran, mithilfe von Netzwerktechnologie ein besseres systemisches, molekulares Verständnis für Seltene Erkrankungen, angeborene Immun- und Entzündungserkrankungen zu erlangen.

In ihrer neuesten Studie schafften es die Wissenschaftler:innen rund um Studienerstautorin Julia Guthrie mittels netzwerkbasierten Analysen, neue molekulare, mechanistische Ähnlichkeiten zwischen Seltenen Erkrankungen des Immunsystems zu identifizieren. Dadurch konnten diese neu klassifiziert werden. Durch Abgleich mit klinischen Daten konnten die Wissenschaftler:innen zeigen, dass Patient:innen mit Erkrankungen innerhalb einer Klassifizierungsgruppe auch auf die gleichen Medikamente ansprachen.

Neue Klassifizierung ermöglicht zielgenauere Therapien

Für ihre Studie untersuchten die Wissenschaftler:innen rund 200 Seltene Erkrankungen des Immunsystems mit ähnlichen Merkmalen. Die computergestützte Analyse der Protein-Protein-Interaktionen zeigte, dass sich auch die molekularen Mechanismen hinter den Erkrankungen ähnelten.

Mithilfe der Auswertungen wurden die Erkrankungen neu klassifiziert und in weiterer Folge berechnet, welche Therapien für die jeweilige Gruppe die besten Ergebnisse erzielen könnten. „Im Vergleich mit existierenden klinischen Daten ermöglicht die neue Klassifizierung der Erkrankungen eine erheblich präzisere Vorhersage von erfolgversprechenden Therapien als die bisherige Vorgehensweise.

Die Netzwerkbiologie erlaubt es uns, tiefere Einblicke in die komplexen Mechanismen vom Zwischenspiel zwischen Immunsystem und Krankheit zu gewinnen. Dadurch können wir gezieltere und personalisierte Ansätze für Diagnose und Behandlung entwickeln“, so Co-Studienleiter Kaan Boztug.

Ähnliche Muster bei Autoimmun- und Autoinflammationskrankheiten

Die Ergebnisse zeigen auch, dass zahlreiche Autoimmun- und Autoinflammatorische Erkrankungen wie Chronischen Darmerkrankungen, Multiple Sklerose, Systemischer Lupus erythematodes oder auch Diabetes Typ 1 eng miteinander verknüpft sind.

Studienerstautorin Julia Guthrie erklärt: „Wir konnten eine Gruppe von Schlüsselgenen und ihre Interaktionspartner identifizieren, die für die Homöostase zentral sind. Dieses Netzwerk an Schlüsselgenen nennen wir „AutoCore“. Bei Autoimmun- und Autoinflammatorische Erkrankungen liegt das AutoCore genau im Zentrum der involvierten Gene. Zudem konnten wir weitere 19 Subgruppen feststellen, die uns Zugang zu einem besseren Verständnis von Homöostase und Dysregulierung des Immunsystems führen sollen.“

Blick auf das große Ganze

Während konservative Ansätze Erkrankungen des Immunsystems häufig den jeweiligen Körperregionen zuordnen und somit separiert betrachten, soll ein systemischer Ansatz ein detaillierteres Bild über zugrunde liegende Mechanismen bieten.

Co-Studienleiter Jörg Menche erklärt: „Wir mussten mehr und mehr die konzeptionellen und praktischen Grenzen des traditionellen Paradigmas "ein Gen, eine Krankheit" in der Forschung über Seltene Erkrankungen erkennen. Dies erschwert den Blick auf das komplizierte molekulare Netzwerk, durch das die einzelnen Komponenten des Immunsystems orchestriert werden. Daher haben wir eine Visualisierung in Form eines mehrdimensionalen Netzwerks entwickelt, die alle derzeit bekannten monogenen Immundefekte abbildet, die der Autoimmunität und Autoinflammation zugrunde liegen, sowie deren molekulare Interaktionen. Und wir sehen, wie eng die Gene bei Seltenen Erkrankungen miteinander verknüpft sind.“

Die gewonnenen Daten bieten zudem eine wichtige Basis, um bessere Behandlungsmöglichkeiten für die jeweiligen Gruppen von Erkrankungen zu identifizieren.

Die Studie „AutoCore: network-based definition of the core module of human autoimmunity and autoinflammation“ erschien in der Zeitschrift Science Advances am 1. September 2023, DOI: 10.1126/sciadv.adg6375

Autor:innen: Julia Guthrie, Sevgi Köstel Bal, Salvo Danilo Lombardo, Felix Müller, Celine Sin, Christiane V.R. Hütter, Jörg Menche*, Kaan Boztug*
*geteilte Letztautoren

Förderung:
Die Studie wurde unterstützt durch den Europäischen Forschungsrat (ERC, Consolidator Grant 820074 "iDysChart"), dem Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) Projekt P29951-B30 (beide an Kaan Boztug.). Jörg Menche wurde vom Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds (WWTF) durch das Projekt VRG15-005 und das Projekt 101057619-REPO4EU (HORIZON) finanziell unterstützt.

Kaan Boztug
ist Wissenschaftlicher Direktor der St. Anna Kinderkrebsforschung, Oberarzt in der Pädiatrische Hämatologie und Onkologie und Bereichsleiter Immunologie am St. Anna Kinderspital und Professor im Fachbereich Kinderheilkunde und Entzündungsforschung an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der Medizinischen Universität Wien. Boztugs Forschungsgruppe konzentriert sich auf angeborene Knochenmarksversagenssyndrome und Immundefekte sowie vererbte Veranlagung zu Tumoren im Kindesalter und zielt darauf ab grundlegende Mechanismen der Immunüberwachung zu verstehen, die für die pädiatrische Onkologie sowie Immuntherapie-Ansätze relevant sind.

Nach einem Medizinstudium in Düsseldorf und Freiburg sowie London mit anschließender Promotion am Scripps Research Institute in La Jolla, USA, absolvierte Kaan Boztug seine klinische Ausbildung und Postdoktorandenzeit an der Medizinischen Hochschule Hannover. Seit 2011 ist der Arzt und Forscher an der Medizinischen Universität Wien sowie als Adjunct Principal Investigator am CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Darüber hinaus ist Kaan Boztug auch Direktor des CeRUD Vienna Center for Rare and Undiagnosed Diseases an der MedUni Wien.

Jörg Menche
studierte Physik in Leipzig, Recife und Berlin. Er promovierte am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam und war Postdoc an der Northeastern University und am Center for Cancer Systems Biology am Dana Farber Cancer Institute in Boston. 2015 kam er als Forschungsgruppenleiter an das CeMM. 2020 übernahm Menche eine Professur am Institut für Mathematik der Universität Wien sowie an den Max Perutz Labs, einem Joint Venture der Universität Wien sowie der Medizinischen Universität Wien. Am CeMM ist Jörg Menche weiterhin Adjunct Principal Investigator.

Das CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin
der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist eine internationale, unabhängige und interdisziplinäre Forschungseinrichtung für molekulare Medizin unter wissenschaftlicher Leitung von Giulio Superti-Furga. Das CeMM orientiert sich an den medizinischen Erfordernissen und integriert Grundlagenforschung sowie klinische Expertise, um innovative diagnostische und therapeutische Ansätze für eine Präzisionsmedizin zu entwickeln. Die Forschungsschwerpunkte sind Krebs, Entzündungen, Stoffwechsel- und Immunstörungen, seltene Erkrankungen sowie zelluläre Alterungsprozesse. Das Forschungsgebäude des Institutes befindet sich am Campus der Medizinischen Universität und des Allgemeinen Krankenhauses Wien.

Weitere Informationen erhalten Sie unter www.cemm.at

Die St. Anna Kinderkrebsforschung
(St. Anna Children’s Cancer Research Institute, CCRI) ist eine internationale und interdisziplinäre Forschungseinrichtung, die das Ziel verfolgt, durch innovative Forschung diagnostische, prognostische und therapeutische Strategien für die Behandlung von an Krebs erkrankten Kindern und Jugendlichen weiterzuentwickeln und zu verbessern. Unter Einbeziehung der spezifischen Besonderheiten kindlicher Tumorerkrankungen arbeiten engagierte Forschungsgruppen auf den Gebieten Tumorgenomik und -epigenomik, Immunologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Bioinformatik und klinische Forschung gemeinsam daran, neueste wissenschaftlich-experimentelle Erkenntnisse mit den klinischen Bedürfnissen der Ärzt:innen in Einklang zu bringen und das Wohlergehen der jungen Patient:innen nachhaltig zu verbessern.

Weitere Informationen gibt es dazu unter www.ccri.at bzw. www.kinderkrebsforschung.at

Die Max Perutz Labs
sind ein Joint Venture der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien. Das Institut betreibt herausragende, international anerkannte Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Molekularbiologie. WissenschaftlerInnen der Max Perutz Labs erforschen grundlegende, mechanistische Prozesse in der Biomedizin und verbinden innovative Grundlagenforschung mit medizinisch relevanten Fragestellungen. Die Max Perutz Labs sind Teil des Vienna BioCenter, einem führenden Hotspot der Lebenswissenschaften in Europa. Am Institut sind rund 45 Forschungsgruppen mit mehr als 450 MitarbeiterInnen aus 40 Nationen.

Mehr dazu gibt es unter www.maxperutzlabs.ac.at