FIBCD1 als wichtiger Rezeptor im Gehirn bei neurologischen Erkrankungen identifiziert

WissenschafterInnen der Forschungsgruppen von Vanja Nagy (LBI-RUD/CeMM/MedUni Wien) und Josef Penninger (UBC/IMBA) konnten in einer multidisziplinären Studie einen wichtigen Rezeptor namens FIBCD1 im Gehirn charakterisieren.

Anhand der Daten zweier junger PatientInnen mit neurologischen Erkrankungen fanden sie zudem Hinweise, dass FIBCD1 eine zentrale Rolle bei Erkrankungen wie Autismus, ADHS und Sprachstörungen spielen könnte. Die Studie leistet einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der extrazellulären Matrix im Gehirn und den damit in Verbindung stehenden neurologischen Erkrankungen.  

Die extrazelluläre Matrix (EZM) ist jenes Gewebe im Gehirn, welches die Zellen geflechtartig umgibt und die Hirnfunktion in der jeweiligen Region mitbestimmt. Sie macht rund ein Fünftel des Gehirnvolumens aus, gibt den Gehirnzellen Stabilität und ermöglicht es unter anderem, Gedächtnisinhalte langfristig zu speichern.

 Bisher wurden erst wenige zelluläre Rezeptoren für die EZM-Signalübertragung identifiziert, und ohne Verbindung zu einer angeborenen neurologischen Erkrankung.

WissenschafterInnen der Gruppe von Vanja Nagy am Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD), dem CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der ÖAW sowie der Medizinischen Universität Wien (MedUni Wien), und der Gruppe von Josef Penninger an der University of British Columbia und am Institut für Molekulare Biotechnologie der ÖAW (IMBA), konnten nun erstmals FIBCD1 als einen Rezeptor für einen der Zuckerbestandteile der EZM identifizieren und mit einer seltenen genetischen, neurologischen Erkrankung in Verbindung setzen.

„FIBCD1 kannten wir bis dato nur im immunologischen Zusammenhang und wurde noch nie im Gehirn oder in Verbindung mit den Funktionen unseres zentralen Nervensystems untersucht. Es ist in unserem Gehirn stark exprimiert. Da FIBCD1 an bestimmte Zucker bindet und die extrazelluläre Matrix im Gehirn zu einem großen Teil aus Zuckermolekülen besteht, sind wir davon ausgegangen, dass der Rezeptor eine wichtige Rolle für unsere Gehirnfunktionen spielt“, so Studienleiterin Vanja Nagy.

PatientInnen mit neurologischen Störungen mit mutiertem FIBCD1

Die ErstautorInnen Christopher Fell (LBI-RUD und CeMM) und Astrid Hagelkruys (IMBA) konnten in einem ersten Schritt mit Hilfe von Knockdown-Fliegen- und Knockout-Mausmodellen sowie einer Reihe von In-silico- und In-vitro-Versuchen zeigen, dass FIBCD1 ein Rezeptor für bestimmte Komponenten der EZM im Gehirn ist.

Ihre Untersuchungen bestätigen, dass das Fehlen von FIBCD1 zu Störungen des Nervensystems führt, die sich auf das Verhalten und zelluläre Dysfunktionen in den Tiermodellen auswirken.

„Daraus konnten wir schließen, dass Abweichungen in FIBCD1 auch bei Menschen neurologische Störungen hervorrufen könnten“, so die ErstautorInnen.

Dies legen auch die Daten zweier PatientInnen, Kinder aus den USA und China nahe, für die vor der Charakterisierung von FIBCD1 im Gehirn keinerlei Diagnose erstellt werden konnte.

Sie leiden unter schwerwiegenden neurologischen Symptomen, die in erster Linie ihr zentrales Nervensystem betreffen

  • Autismus-Spektrum-Störung und
  • Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS),
  • verzögerte Entwicklungsschritte,
  • Sprachstörungen und
  • strukturelle Hirnanomalien.

Bei beiden Kindern konnten FIBCD1 Mutationen festgestellt und damit ein wichtiger diagnostischer Meilenstein gesetzt werden.

Zusammenhang gibt viele offene Fragen auf

Nagy erklärt: „Bereits an Tiermodellen konnten wir sehen, dass das Inaktivieren von FIBCD1 zu massiven neuronalen, funktionellen Störungen führt. Bei den betroffenen Patienten sehen wir, dass in beiden Fällen die FIBCD1 Varianten ihre Funktion verlieren und die Bindung an den Zucker der EZM nicht funktioniert. Daraus können wir ableiten, dass dies der mögliche pathologische Mechanismus sein könnte, der den Erkrankungen der Patienten zugrunde liegt.“

Dennoch sind die Symptome beider PatientInnen sehr unterschiedlich. Während bei einem der Kinder strukturelle Anomalien im Gehirn festgestellt wurden, konnten diese bei dem zweiten Kind nicht gesehen werden.

 „Um noch detailliertere Aussagen treffen zu können, welche neuronalen Störungen FIBCD1 in Patienten auslösen kann, braucht es eine deutlich größere Untersuchungskohorte“, so Nagy.

Intensive Zusammenarbeit zur Erforschung Seltener Erkrankungen

Die Studie stellt einen enormen wissenschaftlichen Meilenstein dar – in vielerlei Hinsicht: Zum einen konnte mit der Identifikation und Charakterisierung von FIBCD1 im Gehirn ein wichtiger Beitrag zum Verständnis über die EZM geleistet werden.

Zum anderen zeigt sie beispielhaft die enorme Kooperation, die es zur Erforschung Seltener Erkrankungen braucht: Insgesamt 29 Expertinnen und Experten aus 24 Institutionen in 7 verschiedenen Ländern der Welt arbeiteten zusammen, um ein neues Gen - FIBCD1 - zu identifizieren, das sehr wahrscheinlich für neurologische Entwicklungssymptome bei zwei nicht verwandten PatientInnen aus verschiedenen Kontinenten verantwortlich ist.

„Die Diagnose von Patientinnen und Patienten mit Seltenen Erkrankungen ist nicht nur für die Betroffenen selbst von enormer Wichtigkeit. Sie leistet auch einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis der molekularen Zusammenhänge unseres Körpers, der Funktionen unserer Gene, und damit zur Entwicklung besserer Therapien vieler auch weitverbreiteter Krankheiten“, so Vanja Nagy.

Informationen zur Studie

Die Studie „FIBCD1 is an endocytic GAG receptor associated with a novel neurodevelopmental disorder“ erschien in der Zeitschrift EMBO Molecular Medicine am 2. August 2022, DOI: 10.15252/emmm.202215829

AutorInnen:
Christopher W Fell*, Astrid Hagelkruys*, Ana Cicvaric, Marion Horrer, Lucy Liu, Joshua Shing Shun Li, Johannes Stadlmann, Anton A Polyansky, Stefan Mereiter, Miguel Angel Tejada, Tomislav Kokotović, Venkat Swaroop Achuta, Angelica Scaramuzza, Kimberly A Twyman, Michelle M Morrow, Jane Juusola, Huifang Yan, Jingmin Wang, Margit Burmeister, Biswa Choudhury, Thomas Levin Andersen, Gerald Wirnsberger, Uffe Holmskov, Norbert Perrimon, Bojan Žagrović, Francisco J Monje, Jesper Bonnet Moeller, Josef M Penninger** und Vanja Nagy***

Informationen zur Förderung:
Die Studie wurde von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Damon Runyon Cancer Research Foundation, dem Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 der Europäischen Union, dem Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF), der Novo Nordisk Stiftung, dem österreichischen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, der Stadt Wien, der Zastrow-Stiftung und einem Canada Research Chairs Program unterstützt; Vanja Nagy wird von der Ludwig Boltzmann Gesellschaft, dem Österreichischen Wissenschaftsfonds und dem 1000 Ideas Project gefördert.

Informationen zu Vanja Nagy
Vanja Nagy ist seit 2016 Key Researcher am Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases und CeMM Adjunct Principal Investigator.

Sie promovierte an der Icahn School of Medicine am Mount Sinai, USA, und war Postdoktorandin in den Forschungsgruppen von Ivan Dikic und Josef Penninger.

Ihr Labor widmet sich der Identifizierung und Charakterisierung neuer ursächlicher Gene bei seltenen neurologischen Entwicklungsstörungen, die sowohl das zentrale als auch das periphere Nervensystem betreffen. Ihr Ziel ist es, zu verstehen, wie sich Funktionsstörungen in neurologischen Pathologien manifestieren, damit effiziente und personalisierte Therapeutika entwickelt werden können.

Für ihre Studien arbeiten Nagy und ihr Labor eng mit Kliniken zusammen und führen Ganz-Exom-Sequenzierungen von Patientenproben durch, um potenziell schädliche genetische Varianten zu identifizieren.

Anschließend werden genetisch veränderte menschlichen Zelllinien, transformierte menschliche Neuronen, primäre Mauskulturen und Mausmodelle herangezogen, um die identifizierten Gendefekte zu validieren und zu verstehen.

Das CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
ist eine internationale, unabhängige und interdisziplinäre Forschungseinrichtung für molekulare Medizin unter wissenschaftlicher Leitung von Giulio Superti-Furga.

Das CeMM orientiert sich an den medizinischen Erfordernissen und integriert Grundlagenforschung sowie klinische Expertise, um innovative diagnostische und therapeutische Ansätze für eine Präzisionsmedizin zu entwickeln.

Die Forschungsschwerpunkte sind Krebs, Entzündungen, Stoffwechsel- und Immunstörungen, sowie seltene Erkrankungen.

Das Forschungsgebäude des Institutes befindet sich am Campus der Medizinischen Universität und des Allgemeinen Krankenhauses Wien. cemm.at

Das Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD)
wurde von der Ludwig Boltzmann Gesellschaft im April 2016 in Zusammenarbeit mit dem CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Medizinischen Universität Wien und der St. Anna Kinderkrebsforschung gegründet.

Die drei Partnerinstitutionen stellen gemeinsam mit dem CeRUD die wichtigsten Kooperationspartnerinnen des LBI-RUD dar, dessen Forschungsschwerpunkt auf der Entschlüsselung von seltenen Erkrankungen des Immunsystems, der Blutbildung, und des Nervensystems liegt – diese Arbeiten bilden nicht nur die Basis für die Entwicklung von personalisierten Therapieansätzen für die unmittelbar Betroffenen, sondern liefern darüber hinaus einzigartige und neue Einblicke in die Humanbiologie.

Das Ziel des LBI-RUD ist es, unter Einbeziehung der Expertise seiner Partnerorganisationen ein koordiniertes Forschungsprogramm zu etablieren, das neben den wissenschaftlichen auch gesellschaftliche, ethische und ökonomische Gesichtspunkte seltener Erkrankungen einbezieht und berücksichtigt.

Wer gern mehr erfahren möchte, findet weitere Informationen direkt unter www.rarediseases.at

Das IMBA – Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
ist eines der führenden biomedizinischen Forschungsinstitute in Europa mit dem Schwerpunkt auf modernsten Stammzelltechnologien, funktioneller Genomik und RNA-Biologie. Das IMBA ist im Vienna BioCenter angesiedelt, dem pulsierenden Cluster von Universitäten, Forschungsinstituten und Biotech-Unternehmen in Österreich.

Das IMBA ist eine Tochtergesellschaft der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, dem führenden nationalen Förderer der außeruniversitären akademischen Forschung. Die Stammzell- und Organoidforschung am IMBA wird vom österreichischen Wissenschaftsministerium und der Stadt Wien finanziert.

Wer gern mehr erfahren möchte, findet weitere Informationen direkt unter www.imba.oeaw.ac.at

Die Medizinische Universität Wien (kurz: MedUni Wien)
ist eine der traditionsreichsten medizinischen Ausbildungs- und Forschungsstätten Europas. Mit rund 8.000 Studierenden ist sie heute die größte medizinische Ausbildungsstätte im deutschsprachigen Raum. Mit 6.000 MitarbeiterInnen, 30 Universitätskliniken und zwei klinischen Instituten, 13 medizintheoretischen Zentren und zahlreichen hochspezialisierten Laboratorien zählt sie auch zu den bedeutendsten Spitzenforschungsinstitutionen Europas im biomedizinischen Bereich.

Wer gern mehr erfahren möchte, findet weitere Informationen direkt unter www.meduniwien.ac.at

*geteilte ErstautorInnen
**geteilte LetztautorInnen