Flucht in die Sucht
Von Alkohol bis zur Onlinespielsucht: der „Kick“ des Konsums
Alkohol gehört genauso wie Onlinespiele für viele zum Alltag.
Genuss und Spaß: Wo ist die Grenze zwischen alltäglichem Konsum und einem problematischen Umgang, der auch medizinisch zu Folgeschäden führen kann? Und welche Auswirkung hat die Pandemie auf den Alkohol- und Medienkonsum? Priv.-Doz. Dr. med. Andreas Jähne, Chefarzt und Ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Rhein-Jura und der Tagesklinik Lörrach, klärt auf.
Ungefährlichen Alkohol gibt es nicht
„Alkohol ist ein Zellgift, das im Körper Gewebe zerstört. Es gibt, so gesehen, keinen ungefährlichen Alkohol“, warnt Dr. med. Jähne, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie ausgewiesener Spezialist in der Diagnostik und Behandlung von Suchterkrankungen.
Aus medizinischer Sicht sind bei Männern 24 Gramm und bei Frauen 12 Gramm Reinalkohol pro Tag tolerabel.
Das entspricht zwei Gläsern Bier zu je 300 ml bei Männern und einem Glas bei Frauen, wenn gleichzeitig mindestens zwei Tage pro Woche pausiert wird. Riskanter, gesundheitlich bedenklicher Konsum beginnt, wenn diese definierte Schwelle überschritten wird. Von schädlichem Alkoholkonsum wird gesprochen, wenn nach aufgetretenen, nachweislich psychischen oder physischen gesundheitlichen Folgeschäden weiter Alkohol konsumiert wird.
Von Euphorie bis Angst
Die Folgen von hohem Alkoholkonsum sind vielfältig: So gibt es neben den als häufig angenehm empfundenen, psychotropen Effekten wie Enthemmung oder Euphorie auch negative wie Angst, Stimmungsschwankungen oder beeinträchtigte Selbstkontrolle.
Hinzu kommen neurologische Komplikationen, wie gestörter Gleichgewichtssinn oder beeinträchtigte Sehfähigkeit, mögliche gesundheitliche Probleme wie Lebererkrankungen und auch soziale Folgen.
Dazu zählen Unfälle, Straftaten, Gewalttaten oder ungewollte Schwangerschaften.
Zudem gibt es die psychiatrischen Folgen. „Alkohol und Depression sind sehr eng vergesellschaftet“, so der Facharzt. Unter den alkoholabhängigen Patientinnen und Patienten gibt es ein bis zwei Drittel, die auch an einer Depression leiden. Das Suizidrisiko von Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit ist sechsmal so hoch wie das von einem nicht alkoholabhängigen Menschen.
In Bezug auf die Pandemie ergab eine Befragung (Georgiadou et al. 2020) nach dem Alkoholkonsum während des ersten Lockdowns ein gemischtes Bild:
- 41 Prozent tranken gleich viel,
- bei etwa 21 Prozent waren es weniger oder viel weniger.
- 29,1 Prozent gaben an, mehr zu trinken,
- bei 8,3 Prozent waren es viel mehr und
- 0,4 Prozent haben begonnen, Alkohol zu konsumieren.
Eine Untersuchung (Jacob et al. 2020) zeigt, dass Menschen mit einem erhöhten Alkoholkonsum im Lockdown auch mehr psychiatrische Symptome aufwiesen.
Abgefragt wurden Angst und depressive Symptome. Umgekehrt zeigte sich, dass das Wohlbefinden bei Menschen mit erhöhtem Alkoholkonsum abnahm. „Es lässt sich also spekulieren, dass psychiatrische Symptome und vermehrter Alkoholkonsum zusammenhängen“, fasst Dr. med. Jähne zusammen.
Suchterkrankungen entstehen schleichend
Der schleichende Weg in die Abhängigkeit beginnt in der Regel mit der positiven Wirkung der Suchtmittel. Eine direkte und rasche Stimmungsverbesserung („Euphorie“, „Kick“) stellt sich ein, unangenehme Zustände werden erleichtert oder deutlich reduziert.
Unbefriedigende Lebenssituationen wie Stress, privater und beruflicher Ärger, Einsamkeit, Langeweile, Schmerzen, Depressionen, Ängste, Unsicherheit aber auch traumatische Erfahrungen und Erlebnisse können so durch den Konsum des jeweiligen Suchtmittels vermeintlich leichter ertragen werden.
Die Betroffenen fühlen sich gestärkt, selbstsicherer oder auch entspannter, aber eben immer nur so lange, bis die Wirkung des Suchtmittels nachlässt und das Verlangen nach „Nachschub“ erneut einsetzt.
Aus diesem Wechselspiel zwischen Rausch und Ernüchterung entsteht früher oder später ein Teufelskreis, aus dem die Betroffenen allein zumeist nicht mehr herausfinden. Im Gegenteil: Der Rauschzustand ist dann längst zum zentralen Lebensinhalt geworden.
Laut dem DHS Jahrbuch Sucht 2021 (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.) sind in Deutschland rund 1,6 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren alkoholabhängig.
Zudem konsumieren 1,4 Millionen Menschen hierzulande Alkohol missbräuchlich und 6,7 Millionen riskant.
Die Folge: 74.000 Todesfälle, die in Deutschland auf Alkohol zurückzuführen sind und ein volkswirtschaftlicher Schaden von 40 Milliarden Euro pro Jahr.
„Alkohol ist eine psychotrope Substanz, d.h., er bewirkt eine Veränderung der Psyche und des Bewusstseins. Menschen konsumieren Alkohol durchaus, um einen bestimmten Effekt zu erzielen“, erklärt Dr. med. Jähne. „Suchterkrankungen sind aber multifaktoriell.
Es ist nicht nur die Substanz an sich, auch wenn das Suchtpotenzial von verschiedenen Drogen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Bis heute ist wissenschaftlich nicht vollständig geklärt, warum einige Menschen abhängig werden und andere nicht, aber man geht bei den Ursachen für Suchterkrankungen mittlerweile unter anderem von einem recht hohen Anteil an Vererblichkeit[1] aus.“
Pathologischer Medienkonsum
Neben Alkohol kann auch die Nutzung von Medien zur Sucht werden. 14- bis 69-Jährige sind in Deutschland etwa 713 Minuten täglich mit Massen- und Individualkommunikation beschäftigt. Dabei entfallen 586 Minuten auf Mediennutzung, 127 Minuten werden mit Kommunikation verbracht. In den jugendlichen Altersgruppen ist dieser Anteil deutlich höher.
Das Spielsuchtphänomen beginnt immer mit dem Positiven: Gewinnen macht Spaß, die Person überschätzt sich, die Einsätze steigen. Irgendwann kommt der Verlust. Das wollen pathologische Spielerinnen und Spieler nicht wahrhaben.
Sie prahlen mit Gewinnen, verheimlichen Verluste. Es mündet schließlich in der Verzweiflungsphase, in der es nur noch ums Spielen geht und die Auswirkungen so massiv werden, dass die abhängige Person sich isoliert und es zu psychiatrischen Krisen kommen kann.
Die DAK Studie „Gaming, Social-Media & Corona 2020“ zeigt, dass die Nutzungszeiten von Kindern und Jugendlichen während des Lockdowns deutlich zugenommen haben.
Als häufigsten Grund für die Nutzung wurde „Langeweile bekämpfen“ genannt.
„Zur Therapie von übermäßigem Medienkonsum gehört unter anderem auch, das Offline-Verhalten durch das Einladen zu anderen Aktivitäten zu stärken. Das Online-Verhalten gilt es, zu reduzieren, z.B. durch das Aufstellen von festen Regeln, wie medienfreien Essenszeiten oder die zeitlich begrenzte Mediennutzung“, so Dr. med. Jähne.
Wege aus der Sucht
Um der Sucht zu entkommen, genügt manchen Menschen bereits der regelmäßige Besuch einer Selbsthilfegruppe. Dort können sie sich mit anderen Betroffenen austauschen und gegenseitig dabei unterstützen, die häufig auftauchenden Klippen im Alltag zu umschiffen.
Auch eine ambulante Therapie bei einer erfahrenen Suchttherapeutin oder einem erfahrenen Suchttherapeuten bzw. einer Psychologin oder einem Psychologen kann zu einem Leben ohne Sucht führen. Zudem kann die Kombination aus einer stationären Kurzzeittherapie und einer daran anschließenden, längeren ambulanten Nachsorge am Wohnort die Resilienz gegen die Sucht stärken.
„Es ist niemals zu spät, sich offen und ehrlich seinem Suchtproblem zu stellen und aktiv dagegen anzugehen, denn es gibt immer einen Weg zurück in ein normales Leben“, macht Dr. med. Jähne Betroffenen Mut.
Mehr zum Thema Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen auf der Website: https://www.oberbergkliniken.de/krankheitsbilder/abhaengigkeitserkrankungen
Ein Vortrag von Priv.-Doz. Dr. med. Andreas Jähne im Rahmen der Reihe der Oberberg Kliniken „Pandemie und Psyche“, nachzuschauen in der Mediathek: https://www.oberbergkliniken.de/veranstaltungsreihe-pandemie-und-psyche/mediathek.
Die Oberberg Fachklinik Rhein-Jura und weitere Oberberg Kliniken verfügen über jahrzehntelange Erfahrung in der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit stoffgebundenen und nicht stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen.
Mehr zum Thema Sucht ist von Dr. med. Jähne auch zu lesen im Kapitel „Alkoholismus und Onlinespielsucht als Beispiele stoffgebundener und nicht stoffgebundener Süchte“ des Buchs „Psychische Erkrankungen – und die Auswirkungen einer Pandemie“ vom Elsevier Verlag, herausgegeben von Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Matthias J. Müller und Prof. Dr. med. Mathias Berger.
Über die Oberberg Gruppe:
Die Oberberg Gruppe mit Hauptsitz in Berlin ist eine vor mehr als 30 Jahren gegründete Klinikgruppe mit einer Vielzahl an Fach- und Tageskliniken im Bereich Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an verschiedenen Standorten Deutschlands.
In den Kliniken der Oberberg Gruppe werden Erwachsene, Jugendliche und Kinder in individuellen, intensiven und innovativen Therapiesettings behandelt. Darüber hinaus existiert ein deutschlandweites Netzwerk aus Oberberg City Centers, korrespondierenden Therapeuten und Selbsthilfegruppen.
Quelle:
[1] Dick DM, Bierut LJ. Curr Psychiatry Rep. 2006 Apr;8(2):151-7.